„Kleines“, beginnt er, „geht es dir gut?“
Ich würde mich gerne jemandem anvertrauen, aber man darf nicht mit Fremden sprechen. Das endet immer böse, sagt Mama.
„Du musst keine Angst vor mir haben.“
Nein, ich habe keine Angst. Er wirkt nicht wie ein gefährlicher Mensch. Ein gefährlicher Mensch trägt keine Latzhose und Gummistiefel. Der Mann legt die Stirn in Falten, obwohl sein rundes Gesicht schon faltig genug ist.
„Wohin geht denn die Reise?“
Nach Hause zu meinen Eltern, hätte ich geantwortet, zu meinen Eltern, die mich auf Tante Lenas Beerdigung vergessen hatten. Doch ich schweige weiterhin. Vielleicht sind Latzhose, Gummistiefel und ein freundliches Lächeln ja seine Tarnung – dann wäre er doch ein gefährlicher Mensch, und sowieso: mit Fremden spricht man nicht.
„Wie lange sitzt du schon hier? So ganz alleine?“
Mir ist kalt, mein Hals kratzt, es dämmert. Ich will nicht, dass es dunkel wird.
„Ich warte auf den Bus, der mich zu meiner Schwester bringen wird“, fährt er fort, „lang ist´s her … Hast du Geschwister, Kleines?“
Ich nicke knapp.
Der fremde Mann klopft sich mit schwungvollen Bewegungen den Staub von der Hose und fragt: „Brauchst du Hilfe? Hast du vielleicht deinen Bus verpasst?“
Ich starre auf meine Schuhe und merke, wie schlammbesudelt sie sind. Mama wird schimpfen.
„Wenn du nicht mit mir redest, kann ich dir auch nicht helfen.“
„Ich fürchte mich vor dem Tod“, kommt es über mich. Sofort schlage ich beide Hände vor den Mund, will die Worte zurücknehmen. Das endet immer böse, Lena!
„Wieso?“
An das erdrückende Gefühl als ich vorm Grabstein gestanden und seine Inschrift gelesen habe, erinnere ich mich noch sehr gut.
„Kleines?“
Meine Tante und ich tragen denselben Namen und zu sehen, wie mein eigenes Grab einmal aussehen könnte, schnürte mir die Luft ab.
„Ich will nicht sterben“, flüstere ich schließlich. Mein Herz klopf ganz laut, ein unangenehmes Gefühl.
„Liest du gerne?“ Seine Stimme ist ruhig. Er hört sich gar nicht gefährlich an, obwohl er mir fremd ist. „Liest du gerne, Kleines?“
Ich nicke. Das Lesen ist meine größte Leidenschaft.
„Wenn du dir ein Buch kaufst -“
„Warum muss ich mir ein Buch kaufen?“
„Nur mal angenommen, du würdest dir eines kaufen und beginnst die erste Seite zu lesen – denkst du zu diesem Zeitpunkt bereits über das Ende der Geschichte nach?“
Ich schüttele den Kopf und der Mann lächelt wieder.
„Das Leben ist zu schön, um sich Gedanken über sein Ende zu machen. Du hast noch so viel vor dir, Kleines. Alles steht dir offen.“
„Alles? Und wenn ich Präsidentin werden möchte?“
„Dann werde ich dich mit Stolz wählen.“
„Oder … Astronautin!“
„Dann werde ich dein Raumschiff bauen.“
„Das können Sie?“
„Wer weiß? Das Leben ist ein unbeschriebenes Blatt und du hast den Stift in der Hand.“
Ein lautes Auto rast an uns vorbei. Wir schweigen.
„Wie sieht Ihr Blatt aus?“
Er schmunzelt leise. „Eine grüne Wiese wäre darauf abgebildet.“
„Eine Wiese?“
„Mit zarten Gänseblümchen, feucht vom morgendlichen Tau.“
„Ein … Sonnenaufgang?“
„Der Himmel wäre in ein tiefes Rot gefärbt. “
„Die Vögel würden singen!“
„Und sich vom warmen Wind tragen lassen. Es wäre Mai.“
„Der siebzehnte Mai – ein Sonntag!“
„Von weit her würden die Kirchenglocken schlagen.“
„Und ein Lied anstimmen …“
Der Mann lacht: „ … für alle Träumer dieser Welt.“
„Lena!“
Ich zucke zusammen, sodass der Orangensaft über den Rand meines Glases auf das Parkett schwappt. Parkett darf nie nass werden, das gibt hässliche Wölbungen und die sind ungeheuer lästig. Meine Mutter packt mich am Arm und reißt mir das Glas aus der Hand.
„Parkett darf nie nass werden, Lena!“, raunt sie mir zu; bemüht, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie zieht mich zu den Garderobenständern im hinteren Teil des Raumes.
„Wo bist du nur immer mit deinen Gedanken?“
Die Innenflächen meiner Hände sind klebrig vom Orangensaft, deshalb frage ich meine Mutter, wo die Toiletten sind.
„Die Toiletten?“, wiederholt sie, „du bleibst hier.“
Ich erwidere: „Aber meine Hände sind total klebrig!“
Meine Mutter richtet sich auf und lächelt höflich, als ein älterer Herr im Anzug uns zunickt. Ihr muss diese Situation furchtbar peinlich sein.
„Du sollst mir immer Bescheid geben, wohin zu gehst! Bist du eine Erwachsene? Bist du erwachsen, Lena?“
Ich schüttele den Kopf und kremple die nasse Seite meines Ärmels um.
„Ich bin durch das ganze Museum gerannt! Wie eine Irre! Gott, die ganzen Leute, die mich gesehen haben …“, sie grüßt eine Frau im Cocktailkleid, „wie stehe ich jetzt da, Lena?“
Ich kann mir schwer vorstellen, wie man in ihren hochhackigen Schuhen überhaupt laufen könnte.
„Was wolltest du überhaupt bei dem Bild da drüben?“
Ich zucke mit den Schultern.
Sie klingt etwas ruhiger. „Was ist denn los?“
„Nichts.“
„Gefällt dir das Bild?“
„Es ist schön.“
Sie reicht mir ein Taschentuch und ich wische meine Hände damit ab.
„Wer hat es gemalt?“, seufzt sie und greift wieder nach einem Sektglas. Die stehen hier überall, ganz gleich, wohin man geht.
„Von Unbekannt.“
„Lena, sag mir das nächste mal Bescheid, ja? Ich muss wissen, wo du bist.“
„Tschuldigung.“
Sie schiebt mich aus der Ecke und ich deute auf das große Gemälde an der Wand. Es zeigt eine grüne Wiese, die in rotes Licht getaucht ist, Vogelschwärme am Himmel und die Silhouette von zwei Kirchtürmen in der Ferne.
„Tante Lena hätte das Bild bestimmt gefallen“, meine ich.
„Bestimmt.“
„Ging sie oft ins Museum?“
„Selten.“
Im Schein der hellen Lampen sehe ich vereinzelte graue Strähnen, die Mamas dunkles Haar durchziehen. Sie wirkt erschöpft; ihre Haltung ist ein wenig eingeknickt. Ich glaube, sie ist dünner geworden. Manchmal zittern auch ihre Hände, obwohl es keinen Grund zur Aufregung gibt. Zum Beispiel, wenn sie sich den Mantel zuknöpft oder mir Zöpfe flechtet. Das sind bloß die Nerven, sagt sie dann. Eine Gruppe von Besuchern drängt sich vor uns und wir machen ihr Platz.
„Denk nicht so viel über die Beerdigung nach“, murmelt meine Mutter und drückt mich an sich, „wir sind hier, um auf andere Gedanken zu kommen.“
„Hat Papa angerufen?“
Sie versteift. „Papa … hat gerade viel um die Ohren, weißt du?“
„Wann kann ich endlich meinen kleinen Bruder kennenlernen?“
„Mal sehen“, sie seufzt wieder, „das entscheidet die Mama des Kleinen.“
Meine Mutter kann Papas neue Frau nicht leiden, obwohl Paula sehr nett ist. Ihre Hände zittern, wenn sie Paula begrüßt.
Ich wünschte, da wäre jemand, mit dem ich über solche Sachen sprechen könnte – jemand, der mich nicht dafür bemitleidet. Meine Mutter arbeitet lange und Papa hat ja Tim und Paula. Er ruft nur einmal in der Woche an, meist spät am Abend, wenn ich schon im Bett liege und schlafe.
„Gehen wir, Mama?“
Mir ist langweilig und ich habe Hunger. Die Häppchen schmecken mir nicht. Meine Mutter blickt auf ihre Armbanduhr.
„Wenn wir uns jetzt verabschieden, könnten wir noch den nächsten Bus erwischen.“
„Kann uns jemand mitnehmen? Ich bin müde.“
Mama lächelt. „Ich auch, Lena.“
Kann nicht glauben, dass du den Text mit 13 geschreiben hast. Unfassbar beeindruckend.
Der Vater ist mir mal sehr unsympathisch.
Aber ich mag den Namen Paula.
Ein wunderschöner Text!!! Ich kenne ihn seit Jahren und lese trotzdem jedes Mal komplett durch!
Meine allererste Kurzgeschichte nach vielen, unvollendeten Romananfängen! Papa hat gesagt: „Setz nach drei Seiten einen Schlusspunkt.“ Das hat mein Leben ein bisschen verändert… danke, Papa.