Das Beste

Es gibt eine Zeit in meiner Kindheit, in der der August nur mir gehört: Meine Mom fährt früh und kommt spät. Ich soll immer lieb sein, vernünftig – geh nicht an den Herd, kleiner Mann, bestell dir Pizza, wenn du Hunger kriegst, Geld liegt auf dem Tisch, ich verlasse mich auf dich, hörst du? Ich marschiere durchs Haus, das unter meinem Schutz steht, inspiziere den Herd und bestelle brav: Zweimal Party-Pizza mit allem und extra Käse, bitte, danke. Wie Kevin aus dem Kinofilm hüpfe ich auf meinem Bett, esse Süßigkeiten und finde heraus, wo Erwachsene ihre Erwachsenen-Filme aufbewahren … traue mich aber nicht. Niemand schimpft, wenn ich stundenlang auf dem Sofa liege und Cartoons anschaue, die fettigen Pizzakartons in Greifnähe auf dem Teppich, und alle Vorhänge zulasse, obwohl es längst heller Tag ist. Ich komme mir groß vor, es gibt nichts Besseres.

Nach Abklingen der anfänglichen Begeisterung beginne ich, ziellos durch die menschenleeren Räume zu wandern, ich suche etwas und finde nichts. Mittags lasse ich das Telefon auf der Gabel und rühre mir mit lauwarmer Milch eine Schüssel Cornflakes an. Damit setze ich mich nach draußen auf die gelb gestrichene, spröde Holztreppe, die zur Veranda führt. Geduldig löffele ich den Brei aus, es schmeckt okay, irgendwie eklig, aber es gibt keinen, bei dem ich mich beschweren könnte. Die Luft steht still, als hätte sie vergessen, sich zu bewegen, alle Zeit wie erstarrt. Das Klackern meines Löffels am Boden der Plastikschale stört das Schweigen zur Mittagszeit. Es ist heiß und ich schwitze.

Meine Mom und ich leben in Waynesboro, Virginia. Sie ist eigentlich Lehrerin, doch im Sommer arbeitet sie in Staunton. Sie braucht diesen Zweitjob, sagt sie, damit wir unser Haus nicht verlieren. Staunton liegt zwölf Meilen weiter in nordwestlicher Richtung und im nächsten County. Laut Reiseführer führt durch Staunton die neuntschönste Hauptstraße Amerikas, viele kleine, bunte Geschäfte an beiden Straßenseiten. Ich hab sie gesehen, die Leute sind verrückt nach ihnen und Mom verdient gut.

***

Die besten Tage sind die, an denen Mom mir zum Abschied einen Einkaufszettel schreibt und ihn neben das Geld auf den Tisch legt: Auf zu Mr. Wongs Gemischtwarenladen heißt das.

„Hallöchen“, höre ich Mrs. Jones‘ tiefe Raucherstimme und drehe mich um. Sie trägt ein weites Kleid mit lustigen, roten Blumen darauf, hat graues Kräuselhaar und tausend Falten im Gesicht, „Na, gehst du einkaufen? Wo ist denn deine Mutter, wieder arbeiten? Brauchst du Hilfe, mein Lieber?“

Manchmal, wenn wir uns begegnen, begleitet sie mich zu Mr. Wong.

„Stört Sie das Glöckchen nicht?“, frage ich, als sie zwei Gläser mit Blaubeermarmelade aus dem Regal zieht und in ihren Einkaufskorb stellt.

„Was meinst du damit, mein Lieber?“

„Das Glöckchen an der Tür, wenn jemand kommt oder geht, es bimmelt den ganzen Tag. Denken Sie, den Leuten hier macht es nichts aus?“

„Hm“, macht sie bedächtig, „das weiß ich nicht.“

„Also mich stört es.“

„Du bist ja gleich fertig. Musst du noch Milch kaufen, Benny? Da vorne ist der Kühlschrank.“

Ich weiß, wo die Milch steht, ich bin Stammkunde. Das Radio auf dem Kassentresen spielt Country, ein komischer Sender, alle paar Minuten unterbricht die immer gleiche, sinnlose Wettervorhersage: Morgen bedeckt, übermorgen leichte Schauer.

Menschen wie Mrs. Jones finden mich süß, so verantwortungsbewusst, wie ich mit dem Notizzettel in der Hand durch die Gänge laufe und meinen Einkaufskorb befülle. Ich bezahle mit Moms Zwanzigdollarschein, lasse Mr. Wongs Frau grüßen und bekomme eine Packung Erdbeer-Kaugummis umsonst.

***

Auf dem Rückweg entscheide ich mich für eine neue Route. Ich laufe einen Block weiter und biege dann in eine Parallelstraße ein. Ein Mädchen sitzt auf dem Bordstein, ein Mädchen in meinem Alter in Jeans-Latzhose, mit roten Haaren, blasser Haut und Sommersprossen im Gesicht, schwarzen Converse an den Füßen. Ich bleibe stehen. Sie ist so hübsch, sie ist so hübsch. 

Sie neigt den Kopf. „Und?“

„Was?“

„Wie was? Komm her, hab ich gesagt“, sie winkt mich zu sich, dabei zuckt ihre Hand in der Luft wie ein zappelnder Fisch an Land.

Vorsichtig setze ich mich. Sie riecht nach Zitronen. Bloß nicht starren.

Sie tippt auf ihre Ohren und bedeutet mir, zu lauschen. Ich höre brummende Motoren von Trucks, rollende Autoreifen auf Asphalt, Gelächter, Gespräche, das Anstoßen von Glasflaschen, das Rascheln meiner braunen Papiertüte, persönlich gepackt von Mr. Wong. Ich bin verwirrt und sehe das Mädchen an.

„Nein“, sie verpasst mir spielerisch einen Stoß, „du hörst hin, aber nicht zu!“

Angestrengt versuche ich, mehr Geräusche einzufangen: knarzende Fenster, die sich öffnen und schließen, jemand Schweres, der eine alte Treppe hinunter poltert, klimpernde Münzen in Hosentaschen, das nervöse Klicken eines Feuerzeugs. Irgendwann drehe ich den Kopf nach hinten, da sind zwei aufgerissene Türen, ein Geschäft. Musik plätschert auf die Straße.

„Hat das gedauert“, das Mädchen kichert spitz, wirkt aber nicht gemein, „keine Panik. Mein Onkel Ray sagt, unsere Musik fällt den meisten Leuten nicht sofort auf. Jetzt hör noch mal… Blue in Green. Sag nicht, du kennst das nicht, das ist Miles Davis!“

Ich finde sie eigenartig, hübsch und sehr komisch. „Das klingt immer gleich“, gebe ich zu.

„Für Anfänger schon“, meint sie stolz, „wie heißt du?“

„Benny.“

Sie klingt überrascht: „Ach, und du beleidigst Jazzer, wo du doch selbst wie einer heißt? Mr. Benny Goodman, ladies and gentlemen! Kennst du den nicht? Er spielt Klarinette.“, Ihre Augen funkeln und ich plustere mich auf wie ein Vogel, weil ich sie zum Leuchten gebracht habe.

„Und wie heißt du?“, presse ich hervor.

„Blossom“, sie reckt ein wenig das Kinn, „wie Blossom Dearie. Sie ist Jazzsängerin und spielt Klavier und … Warte kurz.“

Blossom springt auf, läuft in den Laden und lässt mich perplex zurück. Tausend Platten hängen an den Wänden und tausend mehr werden in Kartons gelagert. Das merkwürdige Gedudel verstummt und eine Frau beginnt, zu singen, eigentlich säuselt sie. Es rauscht, wahrscheinlich ist es eine alte Aufnahme. Blossom kommt wieder, setzt sich zu mir und lächelt breit. Do I want you? Oh my, do I? Honey, ‚deed I do… Do I want you? Oh my, do I? Honey, ‚deed I do

Wir sitzen den ganzen Nachmittag auf diesem Bordstein und hören Jazz. Die Sommersonne steht tief und wärmt unsere Köpfe, unsere Rücken, den Beton unter uns. Ich fühle mich geborgen wie der streunende Kater, der auf dem Schoß meiner Grandma zu schnurren anfängt, wenn sie in ihrem Schaukelstuhl wippt.

Blossom, die Nichte von Onkel Ray – er besitzt den Plattenladen –, ist im Sommer mit ihrer Familie nach Waynesboro gezogen und wird nach den Ferien auf meine Schule gehen. Sie ist schlau, belehrend, euphorisch. Ich möchte sie sofort heiraten.

***

Warmes Wasser läuft über meine Hände, ich spüle Reste des Abendessens ab und stelle den Teller auf das Abtropfgestell, damit Mom das nicht machen muss. In letzter Zeit wirkt sie erschöpft und ich will ihr Arbeit abnehmen. Sie raucht wieder, ich rieche es an ihrer Kleidung, wenn sie mich in den Arm nimmt. Es ist nach acht und das Telefon im Flur klingelt schrill:

„Hallo?“

„Benny? Es ist Mom, Mom hier!“

„Oh, Mom. Was ist passiert?“

„Nichts, gar nichts, ich wollte nur … Ich bin bei Jack gewesen, du kennst Jack nicht, woher auch, ich habe ihn dir nie vorgestellt …“

„Brauchst du Hilfe?“

„Himmel, nein, ich … Benny, es ist schon spät.“

„Ich warte auf dich, so wie immer.“

„Heute nicht, mein Schatz, geh du schlafen, ja? Ich hab dich lieb, Benny.“

Als Mom mitten in der Nacht nach Hause kommt, liege ich wach im Bett, alles ist dunkel und meine Zimmertür steht einen Spalt offen. Ich merke an der Art, wie sie die Tür aufschließt, dass sie getrunken hat: Der Schlüssel kratzt einige Male am Schloss, bis er endlich steckt, Metall auf Metall, es tut in den Ohren weh, dann dreht sie ihn ungeduldig herum. Im Haus atmet sie aus, als hätte sie einen schweren Rucksack abgesetzt. Ich traue mich nicht, aufzustehen und sie zu begrüßen, ich glaube, das will sie nicht.

***

Blossom hockt auf ihrem Bordstein und zupft an ihrem Zopf. „Wie meinst du, zu dir kommen?“, erwidert sie zu mir aufblickend. „Am Samstag. Ich backe Schokoladenkuchen. Und? Hast du Zeit?“ Statt zu antworten, zieht sie die Beine an die Brust, stützt das Kinn auf ein Knie und klopft auf den Platz neben sich. „Hör ein bisschen mit mir zusammen“, Blossom summt leise mit. Ich bleibe stur und möglichst unaufdringlich: „Hast du Zeit?“ „Samstag hätte ich Zeit, Benny“, sagt sie endlich und zwinkert mir zu, „passt dir fünf Uhr?“

***

Mrs. Jones hilft mir bei der Umsetzung meines Plans. Freitagmorgen gehen wir zu Mr. Wong und kaufen die teuerste Backmischung für Schokoladenkuchen. Später backen wir in ihrer Küche. Mrs. Jones ist Kubanerin, raucht eine dicke Zigarre, spielt Klavier und bringt mir alte Lieder auf Spanisch bei. Wieso ist sie so glücklich? Mom sagt, ihr Mann wäre an Krebs gestorben und wegen seiner Behandlung ist sie jetzt pleite, schlimmer als wir.

Irgendwann an diesem Freitag meint Mrs. Jones, dass ein Verehrer aus der Vergangenheit sogar ein Lied über sie geschrieben hätte… Wir lachen viel und laut.

***

Blossom klingelt pünktlich um fünf. Sie trägt ein weißes Kleid und hat eine Platte unter den Arm geklemmt, von Onkel Ray für heute ausgeliehen, es ist ihre Lieblingsplatte, sagt sie. Ich habe es geahnt. Gut, dass Moms Plattenspieler funktioniert.

Wir sitzen auf dem Sofa im Wohnzimmer, lauschen dem Gesang, gucken ohne Ton Cartoons im Fernsehen an und essen meinen Schokoladenkuchen.

„Singt das ein Mann?“, frage ich, während sie mit feierlicher Miene und spitzen Fingern ihre Platte wendet.

Blossom verzieht das Gesicht, als leide sie große Schmerzen. „Mr. Goodman, wo ist dein Sinn für Jazz geblieben?“

„Und dein Sinn für Humor?“, ich grinse mit zuckenden Augenbrauen. Lachend wirft Blossom ein Stück Kuchen nach mir. Krümel fallen auf den Teppich und bedecken die alten Fettflecken von Pizzakartons.

Zwölf ist ein großartiges Alter, das beste.

Ludwigshafen, Sommer 2021

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. attraktivste Kerze auf der Torte

    Einer der ersten Geschichten die ich von dir gelesen habe und ich liebe sie immer noch!! Einfach genial. Und um meine Worte von damals zu wiederholen: „Du schreibst wie ein 50 Jähriger weiser Mann.“

  2. Allegra

    Das ist mein bester Text, mein absolutes Herzstück! Letzten Sommer habe ich gemeinsam mit meiner Familie den Film „My girl“ angesehen und einen Schreibkitzel verspürt.

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