ausgewählte Texte

Die Süßen

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Okt08
Tanja wurde um zehn Uhr geliefert und Karla gefiel das nicht.    Es war Allerseelen, ein Dienstag. Es gab rote Paprika, Maishähnchen und Würzspinat mit Zwiebeln im Wochenangebot, und um kurz nach zehn schob eine Frau ihren Einkaufswagen an Karla vorbei, ohne sie zu bemerken. Stattdessen bemerkte sie Tanja. Die Frau blieb vor Tanja stehen, begutachtete ihr Namensschild, las es ihrem im Einkaufswagen sitzenden Kind vor, und das Kind bat seine Mutter, Tanja mit nach

Day on Earth

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Jul14
Sie steht am Kiosk und zieht eine Postkarte aus dem Drehgestell. „Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand“ heißt es in weißen Lettern über blau gezeichneten Wellen. Die Karte gefällt ihr, also kauft sie sie. In der Bahn auf dem Weg nach Hause zeichnet sie mit dem Zeigefinger die Einkerbungen der filigranen Buchstaben nach, so lange, bis sie sich traut, sich auf den freien Platz neben dem alten, ungepflegten Mann zu setzen. Beim

Ich konnte die Hausaufgaben nicht machen. Mich hat ein Hase abgelenkt.

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Jun11
Kathi sitzt vor offenen Büchern am Schreibtisch und beobachtet das Glas Sprudelwasser, das vor ihr steht. Sie hat das Glas dreckig aus dem Geschirrspüler gezogen; es hat einen Orangensaftrand. Kathi seufzt und schaut auf ihre linke Hand. Sabrina, ihre zweitbeste Freundin aus dem Englischkurs, hat ihr heute in der vierten Stunde, kurz vor dem Raumwechsel, einen Hasen mit der blauen Spitze ihres Tintenkillers auf die Handinnenfläche gezeichnet. Dem Häschen fehlt das Näschen, fällt Kathi sofort

Glückskeks

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Mrz27
Mama müsste wissen, ich bekomme von chinesischem Essen Bauchschmerzen. Sie drückt ihre Lippen zu einem dünnen Strich aufeinander, während sie irgendetwas an der Wand hinter mir fokussiert, dabei werden ihre Augen von Minute zu Minute farbloser.  Ich stelle mein Glas ab.  „Was ist?“, fragt sie.    „Nichts“, sage ich. Meine Stimme sollte energischer klingen, rebellischer.  Schweigend male ich mit dem Zeigefinger Kringel über die Tischplatte und so von mir zur kleinen Elefantenstatue, die zwischen Mama

Unbekannt Verzogen

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Mrz09
Jack,  hab ich dir erzählt, dass es auf dem Gang nach saurer Milch riecht? Der Teppichläufer ist voller Flecken. In meinem Zimmer fließt gelbes Wasser aus dem Hahn und die Lampe über meinem Bett hatte zwischendurch einen Wackelkontakt. Manchmal dachte ich, du würdest mir SOS-Signale senden. Hast du? Am Morgen hat mich eine Frau zum Diner mitgenommen. Ich habe gefrühstückt und Reime auf meine Plastikserviette gekritzelt:  Ich hab das Talent, wegzuhören und auszusieben  von dem,

Herbst

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Okt15
Welchen besonderen Nutzen hat eine Gießkanne, wenn man keine Blumen hat? Sie gehörte meiner Mutter. Von ihr habe ich auch das alte, kaputte Radio und eine rot-weiß gepunktete Kaffeekanne, obwohl ich keinen Kaffee trinke, ich vertrage ihn nicht. Dann läge ich die ganze Nacht wach, auf dem Rücken, alle Gliedmaßen von mir gestreckt und wüsste nicht, wohin mit mir. Der Deckenventilator würde leise rotieren und meine Gedanken zum Kreisen bringen: Im Dämmerzustand erinnere ich mich

The Great Fire

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Okt12
Es brennt,Lola renntdie Straße entlang.Heinrich Heinezüchtet Scheinemit seinem Gesang:Bist schneller als B. Boris,stärker als Chuck Norris,besser als Chuck Berry,hübscher als J’s Mary!P. Picassowirft ein Lassonach Lola aus.Margaret Atwoodsagt: “Is that good!“,und hebt das Glas. Theodor Fontaneunter der Platane,Hermann Hessein der Messeund Thomas Mannin seinem Bann –„Ich habe Angst!“,Lola schreitim roten Kleid:„Ich habe es verpennt!Der Kindergarten brennt!“Von Goethespielt Flöte,die Geisha tanzt. Ludwigshafen, Herbst 2021

Das Beste

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Jun30
Es gibt eine Zeit in meiner Kindheit, in der der August nur mir gehört: Meine Mom fährt früh und kommt spät. Ich soll immer lieb sein, vernünftig – geh nicht an den Herd, kleiner Mann, bestell dir Pizza, wenn du Hunger kriegst, Geld liegt auf dem Tisch, ich verlasse mich auf dich, hörst du? Ich marschiere durchs Haus, das unter meinem Schutz steht, inspiziere den Herd und bestelle brav: Zweimal Party-Pizza mit allem und extra

2021: Odyssee zu Haus

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Mai17
Ich befinde mich in einem kontinuierlichen Zustand des Wartens. Ich harre aus wie ein Krokodil, nur nehme ich dabei zu und weiß nicht, wieso. Im Radio plätschern dieselben fünf Jazzlieder vor sich her. Draußen ist es dunkel. Im Fenster gegenüber kann ich mein Spiegelbild sehen, doch die Lampe über mir wirft keinen Heiligenschein auf mich, wie ich es mir zuerst eingebildet habe, sondern beleuchtet mich nur: eingesackte Haltung, Haare wie ein Vogelnest, schade.    Apropos,

Träumer

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Feb19
„Kleines“, beginnt er, „geht es dir gut?“  Ich würde mich gerne jemandem anvertrauen, aber man darf nicht mit Fremden sprechen. Das endet immer böse, sagt Mama.  „Du musst keine Angst vor mir haben.“  Nein, ich habe keine Angst. Er wirkt nicht wie ein gefährlicher Mensch. Ein gefährlicher Mensch trägt keine Latzhose und Gummistiefel. Der Mann legt die Stirn in Falten, obwohl sein rundes Gesicht schon faltig genug ist.  „Wohin geht denn die Reise?“  Nach Hause