2021: Odyssee zu Haus

Ich befinde mich in einem kontinuierlichen Zustand des Wartens. Ich harre aus wie ein Krokodil, nur nehme ich dabei zu und weiß nicht, wieso. Im Radio plätschern dieselben fünf Jazzlieder vor sich her. Draußen ist es dunkel. Im Fenster gegenüber kann ich mein Spiegelbild sehen, doch die Lampe über mir wirft keinen Heiligenschein auf mich, wie ich es mir zuerst eingebildet habe, sondern beleuchtet mich nur: eingesackte Haltung, Haare wie ein Vogelnest, schade. 

 

Apropos, Tiere: Mama sagt, ich hätte einen Schildkrötenrücken bekommen und bald Arthrose; eine Gelenkerkrankung, musste ich googeln. Ist das nicht traurig? Ich bin so verdammt jung. Und Schildkröten sind eigentlich ganz niedlich, ein bisschen schrumpelig vielleicht… ausgesprochen weise auch. Der blöde Buckel ist der physische Beweis für meine geistigen Leistungen, na Halleluja! 

 

Ich habe eine Geschichte namens „Frühstück bei Starbucks“ geschrieben. Der Titel ist hollywoodreif und kam von meiner Mama, der Besten. Seit meiner gestrigen Interaktion mit Prime Video weiß ich jedenfalls, dass Starbucks vor allem nach Globalisierung schmeckt, lustig, immerhin erreichten den Wettbewerb, dem ich meine literarischen Szenen anvertraut habe, Gedichte mit Migrationshintergrund. Konkurrenz schläft nie und schreibt neuerdings auf Farsi. Ich werde von der großen Welt überrollt, weil ich mich in meiner Blase wohlfühle und unpolitisch bin. 

 

Ich bin so eine Träumerin. Ich blicke auf mein Umfeld und bastele Filmszenen, ich würde einen Film daraus machen, einen, den ich selber schreiben, drehen und produzieren würde, ich kann sogar einigermaßen passabel singen, all das mache ich ständig, ich lebe in meinem eigenen schuldenfreien 120-Minüter mit Top-Cast, mein Schutzmechanismus, ich liebe den Film, alle guten Dinge passieren in Filmen, es ist das Gefühl, das ich mit der Musik, den Bildern und Amerika verbinde… Frankies Stimme ist wie ein Mantra, gelegentlich auch Lizas, aber nur Frankie kann den Hut tragen. Kopfkino. Eine Geschichte von mir, „Smokey“, spielt in New York, sie existiert ausschließlich in meinem Kopf, weil ich mich nicht traue, sie aufzuschreiben, „Smokey“ ist ein Gedankenspiel, Tagträumerei und die Szenen auf Papier zu bringen – schwarz auf weiß – würde sie kaputt machen, „Smokey“ ist zu meinem Lebensbegleiter geworden: Seit zwei Jahren rücke ich die Geschehnisse um meine beiden Protagonisten so zurecht, dass es mir in der Wirklichkeit besser geht. Manchmal tippe ich sogar Dialogfetzen in ein Übersetzungsprogramm und lasse die monotone Frauenstimme, die englische Übersetzung vorlesen, das habe ich noch niemandem erzählt. 

 

Elvis meldet sich bei mir, zurzeit öfter als sonst, unsere Unterhaltungen sind kurz, auf den Punkt gebracht und mit einem angenehmen Rauschen in der Leitung. Hinterher will ich mir weiße Blumen ins Haar stecken. Richtig umschmeichelt fühle ich mich aber von Dooley Wilson und seinem gerolltem R bei „brings“… no matter what the future brings, as time goes by. Solche Momente wie die gerollten Rs findet man überall, wenn man aufmerksam lauscht. Turteltauben Ella und Louis raunen sich während ihrer gemeinsamen Aufnahmen regelmäßig leise Sprüche zu… Swing it, Ella! Swing it, boys! So gesehen quasselt nur Louis die ganze Zeit. Ich liebe das, es ist so echt und nah. Bei „Moonlight in Vermont“ hört man ihn, wie er sich kurz vor seinen zwei Sätzen Gesangsolo ins Mikrofon räuspert. Das Geräusch kitzelt in den Ohren. 

 

Gestern Nacht habe ich Stephen King gelesen – „Es“, eintausendeinhundert Seiten geballte Hölle. Man frisst Buchstabe um Buchstabe, wird unruhig und lernt, die Dunkelheit und Kanaldeckel zu meiden… Beispiel: Schwarz. Kamera auf das eingerahmte Bild über meinem Bett, in seiner Plexiglasscheibe spiegelt sich das orangene Nachtlicht von der Wand gegenüber wider. Meine Tür ist einen Spalt offen, sodass das grelle Licht aus der Küche in die Diele und in mein Zimmer scheinen kann. Ich stehe mitten im Raum und bilde mir ein, einen zu dunklen Schatten hinter meiner Tür zu bemerken. Ich drehe mich um – Kamera auf mein ängstliches Gesicht – da ist nichts. Ich entspanne merklich, drehe mich wieder um. Ich erstarre – Kameraschwenk auf das Bett – Pennywise liegt darauf, den dicken Schädel auf die Hand gestützt und grinst. 

 

Ich sollte aufhören, mein Hals ist furchtbar trocken geworden. 

 

Ich stelle mir lieber etwas anderes vor, Ellington und Coltrane führen gerade eine wortlose Konversation: ein kleines blasses Mädchen, das ein Kleid mit Rüschen an den Schultern und weiße Kniestrümpfe trägt. Sie spaziert durchs Viertel, ihr vertraute Straßen, es ist Augustabend und die Sonne scheint golden auf das Kopfsteinpflaster. Menschen, die sie aufwachsen sahen, grüßen sie mit einem warmen Blick, aber sie lächelt nicht zurück. An einladend weit geöffneten Fenstern läuft sie immer ein wenig schneller vorbei. Unter ihrem Arm ist ein braunes Gesangsbuch geklemmt, sie ist auf dem Weg zur Kirche, dort singt sie seit einem halben Jahr im Kinderchor. Ihre Eltern möchten, dass sie offener und mutiger wird, das Singen soll helfen. Außerdem hat der nette, wortkarge Pater versprochen, sich gut um sie zu kümmern. Kirchenmauern sind dicke Mauern, Kinder schweigen und niemand fragt. It ain’t necessarily so the t’ings dat yo‘ li’ble to read in de Bible it ain’t necessarily so. Trompeten, Drama, Ende. 

 

Das Tagesgeschehen hat mich eingeholt und beschert mir Bauchschmerzen, jetzt bin ich wach. Es scheint spät zu sein: Alles ist still und dunkel, nur mein Küchenlicht brennt noch, der Kühlschrank rauscht beschäftigt, die Nachbarn von gegenüber haben ihren Fernseher ausgeschaltet. Ich sollte schlafen gehen, so müde… Das Krokodil hat gefressen.

Ludwigshafen, Frühjahr 2021

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. attraktivste Kerze auf der Torte

    „Ich harre aus wie ein Krokodil, nur nehme ich dabei zu und weiß nicht, wieso.“
    Deine Geschichten sind „Zitatreif“ !

  2. Allegra

    Ohne den „Winterlockdown“ 2021 wäre dieser Text nicht entstanden: Meinen Homeschooling-Tag habe ich jeden Tag um einige Schreibminuten verlängert und so nach längerer Pause wieder zum Schreiben gefunden… Den Titel habe ich mir von Stanley Kubrick geliehen, ich finde die Referenz immer noch super!

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