Mama müsste wissen, ich bekomme von chinesischem Essen Bauchschmerzen. Sie drückt ihre Lippen zu einem dünnen Strich aufeinander, während sie irgendetwas an der Wand hinter mir fokussiert, dabei werden ihre Augen von Minute zu Minute farbloser.
Ich stelle mein Glas ab.
„Was ist?“, fragt sie.
„Nichts“, sage ich. Meine Stimme sollte energischer klingen, rebellischer.
Schweigend male ich mit dem Zeigefinger Kringel über die Tischplatte und so von mir zur kleinen Elefantenstatue, die zwischen Mama und mir steht. Ich mag Elefanten, sie bringen mich zum Lachen. Ich pikse seine scharf zulaufenden Stoßzähne. Mama dreht ihren Kopf zur Seite und im Schein der Schirmlampen bemerke ich, wie verfilzt ihr braunes Haar ist. Auf Papas Bildern fand ich sie hübscher. Die Fotos waren so klein wie Briefmarken und auf postkartendickem Papier. Ich starre zum Aquarium am Eingang. Papa hat gestern gedroht, meinen Goldfisch in die Toilette zu werden, wenn ich mich heimlich mit einem Jungen treffen würde. Das hab ich Noah erzählt, während wir zum Restaurant fuhren. Papa denkt immer noch, wir wären bloß Lernfreunde.
Mama verzieht ihre Mundwinkel. Hat sie gerade gelächelt? Ich glaube, ich habe sie noch nie in echt lächeln gesehen.
„Wie geht es dir?“, fragt sie schließlich. Ihre Hände zittern, obwohl sie sich bemüht, es vor mir zu verbergen. Schnell schiebt sie sie unter den Tisch.
„Gut“, sage ich.
Eigentlich sollte ich wütend sein, weil sie mich jahrelang wegen Mama angelogen haben, aber ich kann auf niemanden gerade wütend sein, so ein komisches Gefühl. Mein Kopf ist komplett leer. Nur die Knöchel meiner rechten Hand tun noch weh, von heute Morgen, als ich gegen den Türrahmen geschlagen habe.
„Und die Schule?“, fragt sie zäh.
Irgendwie bin ich froh, dass sie mehr Interesse an mir hat als ich an ihr, das macht es mir leichter. Ich trinke von meiner Fanta, Mama trinkt von ihrer Cola. Sie ist gegangen, als ich sechs war, und trotzdem erinnere ich mich an die angebrochene Colaflasche, die mittags auf ihrem Schminktisch stand. Daneben lag ein in ungeöffneter Glückskeks. Seine goldene Verpackung glitzerte furchtbar schön geheimnisvoll.
„Schule läuft gut“, antworte ich.
Früher bestellte Mama jeden Tag vom Chinesen, wenn Papa arbeiten musste. Sie hat schon damals geraucht und mich selten in den Arm genommen. Oder gelächelt.
„Weißt du, ob du studieren gehen willst?“, fragt sie und strafft die Schultern, als wappne sie sich für meine Antwort.
„Keine Ahnung“, lüge ich, um sie zu provozieren, doch Mama schweigt.
Als Kind lernte ich Lesen durch die Glückskekssprüche, die ich versuchte, Mama beim Essen vorzutragen. Wenn alles fehlerfrei gewesen ist, durfte ich den Keks essen. Glückskekse schmecken mir nicht, aber damals war das nicht wichtig. Ich weiß, sie macht sich Vorwürfe, dass sie mir in ihrer Abwesenheit nicht weiter mit der Schule helfen konnte.
Der Kellner kommt.
„Das riecht ja lecker“, sagt sie mit einem unschlüssigen Lächeln, als zwei dampfende Teller vor uns abstellt werden. Auf ihrem linken Schneidezahn klebt ein Stück Lippenstift.
„Hm“, mache ich.
„Ich hoffe, du magst immer noch gebratene Nudeln…?“
Ich nicke knapp.
Sie ist auf Abenteuerreise, in China, erzählte Papa jeden Abend, als er mich ins Bett brachte, Mama ist auf geheimer Mission: Sie muss magische Lotusblumen vor dem bösen Drachen beschützen, und der Drache wird dann ganz lieb, weil Mama ja da ist! Ich hebe den Kopf und beobachte sie beim Kampf mit ihren Essstäbchen, bis sie resigniert zur Gabel greift. Abenteuerreise in China, von wegen. Mir entfährt ein unkontrolliert lauter Lacher.
„Nina…“, schreckt sie hoch und schaut sich hektisch um, „die Leute!“
An meinem dreizehnten Geburtstag fand ich auf der Straße eine Patronenhülse. Von `ner 44er Magnum: „The most powerful handgun in the world“, erklärte Papa stolz. Zu diesem Zeitpunkt, denke ich, habe ich endgültig aufgehört, an die China-Geschichte zu glauben. Ich umklammerte die Patronenhülse die ganze Nacht und am Morgen darauf rochen meine Finger metallisch.
„Tut mir leid“, murmele ich.
„Was war denn, Nina?“
In ihrem Blick lese ich ihr Dilemma: Sie hasst es, Mutter zu sein, und beugt sich gleichzeitig einem mir unverständlichen Pflichtgefühl, eine zu werden, mindestens ein Mittagessen lang. Bedeuten ambivalent und zwiegespalten dasselbe?
„Alles gut, Mama“, sage ich.
Diese Worte habe ich zum ersten Mal so kombiniert. Ich bin kein besonders sentimentaler oder nachtragender Mensch, sondern Opportunist; ich bin nicht stolz darauf.
Sie lächelt säuerlich. „Schmecken dir deine Nudeln?“
Jeder steht unter dem Schutz des Völkerrechts. Wenn Mama nach elf Jahren zurück in mein Leben stürzt, übertritt sie unautorisiert meine Grenzen und bricht mein Völkerrecht. Ihr Anruf heute Morgen glich einem Angriffskrieg.
„Schmecken gut“, antworte ich und stochere unmotiviert in meinem Essen.
Warum tut sie das? Mama versetzt uns in eine Zeit, in der ich verletzlich gewesen bin. Andererseits kennt sie nur die Nina von damals.
„Wie lange bist du in der Stadt?“, frage ich. Ich will wissen, wie lange ich mich gegen sie verteidigen muss.
„Vielleicht ein paar Tage“, sagt sie. Mich stört ihr Lippenstift-Zahn, genauso wie die Schwaden ihres penetranten Parfüms, denen ich machtlos ausgeliefert bin. Ich fühle mich betäubt und trinke einen großen Schluck.
„Und“, fragt Mama und guckt wieder an mir vorbei, „wie geht es deinem Vater?“
„Besser“, sage ich.
Ich möchte aufstehen und zu Noah, der draußen auf dem Parkplatz auf mich wartet. Mir ist ihr Jammer egal – aber ich will nicht unnötig hart sein.
„Möchtest du von meinem Reis probieren, Nina? Er schmeckt wie früher“, sagt sie tapfer.
Auf ihrem Ärmel klebt Soße und die Spitze ihres Blusenkragens steht ab. Sie wirkt ausgebrannt, ihre Haut hat einen rötlichen Stich, und sie hat gelbe Fingernägel an der rechten Hand vom Rauchen. Mein Magen krümmt sich von Neuem. Ich wollte ihr nie schaden; sie nicht noch trauriger machen. Besser greife ich nach meiner Fanta, nehme noch einen Schluck und antworte ihr, mindestens ein Mittagsessen lang.
Ich brauche mehr Informationen zur der Mutter. Was ist passiert? Warum war sie so lange weg?
Und ich finde die Geschichte wiedermal so toll aber auch so traurig. Vor allem das gestörte Mutter-Tochter Verhältnis.
Ich möchte diese Geschichte meinen Eltern widmen – sie sind einfach die Besten!