Sie steht am Kiosk und zieht eine Postkarte aus dem Drehgestell. „Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand“ heißt es in weißen Lettern über blau gezeichneten Wellen. Die Karte gefällt ihr, also kauft sie sie. In der Bahn auf dem Weg nach Hause zeichnet sie mit dem Zeigefinger die Einkerbungen der filigranen Buchstaben nach, so lange, bis sie sich traut, sich auf den freien Platz neben dem alten, ungepflegten Mann zu setzen. Beim Aussteigen stolpert sie und knickt eine Ecke der Karte, doch sie streicht sie sofort wieder glatt. Schützend schiebt sie das Papierstück in ihre Mantelinnentasche. Der Frühling ist kalt und die Stadtluft schmeckt nach Diesel. In ihrer Wohnung befestigt sie die Karte mit zwei Magneten an den Kühlschrank, der wie ein sattes Kätzchen schnurrt. Sie kratzt einen Schmutzkrümel vom L, dem Anfangsbuchstaben von Liebe. Liebe wäre Aberglaube, meint ihre Schwester Emma seit der Scheidung. Emma lebt im Strandhaus der Familie, das lange leer stand, liest schlechte Bücher und trinkt beim Fernsehen lauwarmen Eierlikör aus zu großen Gläsern. Seufzend greift sie nach dem Telefon im Flur, um Emma anzurufen; sie ruft sie immer zu dieser Uhrzeit an. Wenn Emma nach dem dritten Klingeln nicht abnimmt, weiß sie, ist ihre Schwester vor dem Fernseher eingeschlafen.
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Er steht rauchend am Kiosk und zieht eine Postkarte aus dem Drehgestell. „Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand“ liest er weiß auf blau. Er lächelt. Die Karte wird Ava gefallen, hofft er. Nach dem Kauf legt er sie zwischen die Seiten seines gebundenen Terminkalenders. Es nieselt, eilig winkt er ein Taxi heran. Er muss sich beeilen, will sich nicht verspäten, seine Studenten warten auf ihn. Im Taxi denkt er an Ava und wie ihr diese kurze, eigenwillige Locke zwischen die Augen rutscht, wenn sie über die Notizen seiner letzten Vorlesung grübelt. Er beobachtet sie gerne beim Lernen. Sobald sie seinen Blick auf sich spürt, lacht sie laut und mädchenhaft auf und küsst ihn. Die Wochenenden verbringen sie in Avas Wohnung, damit es niemandem auffällt. Müde tastet er in seiner Manteltasche nach der Zigarette, die ihm vorhin aus der Schachtel gefallen war, doch zieht stattdessen sein vibrierendes Handy heraus: Seine Frau ruft an. Das Taxi fährt holpernd über das Kopfsteinpflaster und in einem Moment der Überraschung schaltet er das Telefon aus – versehentlich, wie er sich einredet. Am Freitag wird Ava einundzwanzig und er fragt sich, ob sie Blumen von ihm erwarte. Blüten und Bücher seien die großen Seelentröster, stand auf einer anderen Karte.
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Ich brauche ganz dringend was zum Schreiben… Ein Kiosk! Hastig greife ich nach einer der Karten und ziehe einen Kugelschreiber aus dem Stifthalter an der Kasse, um die Telefonnummer aufzuschreiben, die ich mir seit Stunden merke. Heute Morgen bin ich zum ersten Mal an Papas neuem Büro vorbeigekommen, er hat in der Fußgängerzone die Kanzlei eröffnet, von der er immer geträumt hat. Ich wollte ihn begrüßen, wirklich, ich hatte vor, die schöne neue Tür aufzustoßen, dann sah ich durch das Fenster, wie Fleur ihm um den Hals fiel und er gerührt in ihr blondes Haar lächelte. Ich weiß noch, ich beobachtete die beiden wie eine stumme Filmszene und dachte an unseren letzten gemeinsamen Sommer in Frankreich… Mama lachte viel und Papa tanzte mit ihr im Restaurant um die Tische. Mit tauben Fingern drehe ich die Postkarte um und lese: „Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand“. Was für ein Kitsch. Ich drehe die Karte wieder um – ist ja von Blaise Pascal! In der Schule haben wir über ihn gesprochen. Er hat den ersten Taschenrechner erfunden und einige schlaue Dinge über Religion und die Menschen gesagt… Wie ist es eigentlich, als Mathematiker überzeugter Christ zu sein? Ich schaffe es nicht einmal für meinen Vater, eine überzeugte Tochter zu sein. In Frankreich, am Meer, schmeckte alles intensiver, erinnere ich mich, selbst das Atmen. Und Zeit verging langsamer, sie hatte einen anderen Rhythmus dort. Unwillkürlich fing ich an, die Dinge im Kopf mit schwarzem Fineliner nachzuziehen und die Bleistiftstriche der Skizze auszuradieren. Das beschränkte mich, alles wurde so furchtbar endgültig. Ich mag das nicht. Die Welt ist mein weißes Papier – jetzt steht darauf die Nummer von Papas Kanzlei, wahrscheinlich werde ich niemals anrufen. Ne Scheißkälte! Ich straffe meinen Schal, seit heute Morgen friere ich schon, der Frühling kommt dieses Jahr verdammt spät. Frühling ist ein Sandwich-Kind, genauso unentschlossen wie ich… Ich hab noch Taschengeld übrig. Soll ich die Bahn nehmen oder mir ein Taxi rufen? Vielleicht gehe ich lieber zu Fuß, die Fußgängerzone entlang, und zum hübschen Teeladen, danach gegenüber in den Supermarkt, meine Kaugummis sind schon wieder leer, also, die mit Zitronengeschmack, und in die Reinigung muss ich auch, weil Beate mich gebeten hat, die Arbeitskleidung ihres Mannes abzuholen, er ist Handwerker, Fliesenleger, und macht die beste Lasagne der Welt, sagt Beate, beide wohnen eine Etage unter uns und ich helfe ihnen gern, und auf meinem Rückweg komme ich an Papas Kanzlei vorbei, dann stoße ich die Tür auf und begrüße ihn, ja, vielleicht, und schenke ihm eine Postkarte, einfach so, weil ich ihn lieb habe.
Liebe auch diese Geschichte, oder soll ich besser sagen, Geschichten? 😆.
Vor allem, wie die drei Geschichten/Leben miteinander verbunden sind, wie jede/r etwas anderes mit dieser Karte verbindet. Eigentlich haben die drei Personen nichts miteinander zu tun, und doch sind sie irgendwie miteinander verbunden. Mega coole Idee!
Danke sehr für die schöne neue Geschichte! 💓Mir hat die Idee ganz gut gefallen „Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand“. Und der Schluß mit der liebenden Tochter! 👏👏👏❣️
Mein Goldstück – ich habe sehr lange an diesem Text gefeilt.