Herbst

Welchen besonderen Nutzen hat eine Gießkanne, wenn man keine Blumen hat? Sie gehörte meiner Mutter. Von ihr habe ich auch das alte, kaputte Radio und eine rot-weiß gepunktete Kaffeekanne, obwohl ich keinen Kaffee trinke, ich vertrage ihn nicht. Dann läge ich die ganze Nacht wach, auf dem Rücken, alle Gliedmaßen von mir gestreckt und wüsste nicht, wohin mit mir. Der Deckenventilator würde leise rotieren und meine Gedanken zum Kreisen bringen: Im Dämmerzustand erinnere ich mich an Ms. Goldbergs schrille, laute Stimme. Sie hat so schnell gesprochen, dass sie währenddessen oft Schluckauf bekam. Wir lebten in derselben Nachbarschaft und begegneten uns, wenn ich nach Schulschluss auf dem Heimweg war. Aus Ms. Goldberg sprudelte die Lebensfreude, als würde ein Glas Champagner überlaufen. Von Weitem schon sah man ihre bunten Röcke entgegen tanzen und die verrückten, kleinen Federhüte, die sie trug. 

 

 

„Ivy! Kommst du aus der Schule, wie war es, geht es dir gut? Und der Familie, dem Vater, ist alles Recht? Was für ein bezauberndes Kleid du trägst! Himmel, bist du schnell erwachsen geworden! Pass nur auf, ich sehe Scharen von jungen, hübschen Männern dir hinterherlaufen, pass nur auf, süße Ivy…“, hickst Ms. Goldberg in alter Manier und lächelt mit ihren zu großen Zähnen.   

„Wie geht es Ihren Katzen, Ms. Goldberg?“, lache ich.

„Sehr gut, danke, ach!“, ihre dunklen Knopfaugen blitzen auf, „Bonnie ist schwanger, weißt du? Bald werden viele kleine Katzenbabys bei mir leben! Ich platze ja vor Aufregung! Kommst du mich denn besuchen? Ich backe Kekse und du kannst auf dem Klavier für mich spielen, du bist sehr begabt, habe ich gehört, möchtest du? Mein guter Steinway ist frisch gestimmt, weißt du, von Mr. Taylor, du kennst ihn sicher! Ein ganz feiner Mann – und so höflich! Ich fühle mich wie ein kleiner Trampel neben ihm, er kommt aus England, weißt du, aus Eastbourne, das liegt am Meer, warst du schon mal in England, Liebes?“       

 

Irgendwann gehe ich in die Küche und setze Wasser auf. Beim Eingießen zittern meine Hände vor Erschöpfung. An die Anrichte gelehnt beobachte ich, wie der Teebeutel in ungleichmäßigen Wölkchen das Wasser in meiner Tasse schwärzt. Schwarz dominiert immer. Schwarz ist eine Farbe, von der man sagt, es sei keine echte Farbe. Das Holz, das ein Klavier ummantelt, ist schwarz. Schatten sind schwarz. Meine Sonnenbrille hat schwarz getönte Gläser. Mir wird schwarz vor Augen. Die Tinte meiner Unterschrift auf den Scheidungspapieren glitzerte schwarz und nass im Licht der Mittagssonne, das durch die großen Bürofenster zu uns hereinfiel. Ich drücke die warme Tasse an meine Brust und halte meine Wange in den Dampf. Die Nachbarn schauen fern, es läuft eine Folge „Jeopardy!“. Sie lachen. Mir ist nach etwas Süßem. Ich ziehe die Zuckerdose aus dem Regal und süße meinen Tee. Als ich sie zurückstelle, bemerke ich die tote Fruchtfliege, die ich mit dem Rand der Dose zuvor an die Wand gedrückt und getötet haben muss. Ich habe Leben genommen. Meine Schwester würde mich dafür tadeln, dass ich Zucker esse.

 

„Du bist krumm, Ivy“, Grace tippt mir zweimal auf den Nacken, „Mom sagt, das kommt vom schiefen Sitzen. Warum liest du denn so viel? Willst du nicht schön aussehen?“

Spielerisch verdrehe ich die Augen und lasse meine Halswirbel knacksen. 

Sie quiekt auf: „Ivy! Das ist eklig!“

Ich lache, beiße herzhaft in meinen roten Apfel und streiche die Falten in meinem Filzrock glatt. Grace hebt ihren Rossschwanz an und fährt mit nervösen Fingern ihren Nacken entlang. „Hab ich das auch, guckst du mal? Bitte, bitte, Ivy?“

 

 

Früher hat sich Grace solche Dinge von unserer Mutter abgeschaut, sie dachte, es wäre ein Spiel; wir würden so tun, als ob. Heute hat sie die Regeln verstanden. Grace verliert nie. Im Winter kommt ihr drittes Kind zur Welt, vielleicht wieder ein Junge, ein gesunder, wunderschöner Junge. Am Telefon habe ich angeboten, sie besuchen zu kommen und ihr die ersten Wochen zu helfen, solange Tom auf Reisen ist, doch sie hat bloß über ihre morgendliche Übelkeit geklagt. Es ist, als würde man versuchen, mit eingecremten Händen einen Plastikverschluss zu öffnen: Ich komme nicht zu ihr hindurch. Wir waren zu lange Zeit voreinander verschlossen.

 

 

Mutter stellt sich in Abendgarderobe neben mir auf und ich sehe vom Schreibtisch hoch, ihr Ton überrascht mich: „Ivy, leg das Buch weg und zieh dich an. Das rote Kleid. Wir sind eingeladen bei den Hoffmans, Jonathan wird da sein.“ 

Sicher wird er das und bestimmt ist er es schon. Er trägt den schwarzen Anzug vom Schneider seines Vaters, raucht mit seinem Onkel kubanische Zigarren, isst die Hühnchen-Pastete vom Koch, den seine Mutter aus Europa hat einfliegen lassen, von den Goldtellern seiner Großeltern und wartet. Der Kaugummi in meinem Mund schmeckt plötzlich bitter.

„Das rote Kleid, Mom?“ 

Ihr Blick ist fest und dicht voller unausgesprochener Worte wie konzentrierter Orangensaft.

 

Draußen kann ich den Nieselregen auf das Blechdach prasseln hören. Benommen stelle ich meine Tasse ab, tappe über die kalten Bodenfliesen zum schmalen Küchentisch, auf dem das Radio meiner Mutter steht, setze mich und schalte es ein. Es gibt angestrengte Geräusche von sich, bis es schließlich das schwache, unbeständige Signal eines Klassiksenders empfängt. Ich werde es gesund pflegen, beschließe ich, so, wie mich selbst. Er hat mir wenig gelassen, aber dieses Radio gehört mir. Ich lehne mich zurück. Meine blütenweißen Vorhänge werden von einem Schwall Nachtluft aufgewirbelt, der durch ein gekipptes Fenster und den leeren Raum rauscht. Summend zünde ich mir eine Zigarette an. Immer wenn ich rauche, spüre ich Nicks Gesicht dicht an meinem. Er hätte mein Jonathan sein müssen, Mutter noch am Leben und Vater schuldenfrei. Ich könnte Nick anrufen, er hat geheiratet, es stand erst neulich in der Zeitung. Will ich wissen, wie die Stimme seiner Frau klingt? Viel ist passiert und ich habe keine Kraft mehr.

 

 

Der Butler zeigt keine Regung – der Ausdruck in seinen Augen bleibt unberührt – und er wiederholt emotionslos: „Damen ist der Zugang zum Salon nicht gestattet, Miss.“

Vater fürchtet Glücksspiele. Doch seit ich regelmäßig das rote Kleid zu den Abendessen trage, genießt er jeden einzelnen verlorenen Penny. Mr. Hoffman und er trinken Brandy zusammen, rauchen die ganze Nacht und beglückwünschen sich gegenseitig. Vater ist einer von ihnen geworden, hofft er. 

Ich lasse mir Zeit, als ich zurück zur Gesellschaft auf die Veranda trete. Die sommerliche Schwüle drückt von außen und die Beklemmung von innen. Jonathan reicht mir ein Glas Sekt. Ich sähe hübsch aus in meinem Kleid, sagt er, greift nach meiner freien Hand und drückt sie fest. Übrigens: ob ich mich darauf freue, ihn zu heiraten? 

 

Diese Wohnung wirkt schrecklich karg, wie das Gerippe eines toten Rindes, sie braucht dringend ein wenig Leben. Vielleicht gehe ich morgen ins Blumengeschäft in der Innenstadt und kaufe einen Strauß Blumen. Dann könnte ich endlich Ms. Goldbergs Kristallvase aus dem Regal stellen, die Kugelförmige, sie hat sie uns damals zur Hochzeit geschenkt. Ich drücke den glimmenden Zigarettenstummel auf dem Teller neben der staubigen Kaffeekanne aus, lasse das Radio laufen und gehe schlafen.

Ludwigshafen, Herbst 2021

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. attraktivste Kerze auf der Torte

    Warum sind deine Geschichten immer so traurig? *Schnief, Schnief*

    Meine Mom meint auch immer, dass mein krummer Rücken vom schiefen sitzen kommt. Aber was soll man machen.

  2. Allegra

    Dieser Text ist eine Skizze für mein erstes Drama, das gerade in Arbeit ist…

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