Die Süßen

Tanja wurde um zehn Uhr geliefert und Karla gefiel das nicht.   

Es war Allerseelen, ein Dienstag. Es gab rote Paprika, Maishähnchen und Würzspinat mit Zwiebeln im Wochenangebot, und um kurz nach zehn schob eine Frau ihren Einkaufswagen an Karla vorbei, ohne sie zu bemerken. Stattdessen bemerkte sie Tanja. Die Frau blieb vor Tanja stehen, begutachtete ihr Namensschild, las es ihrem im Einkaufswagen sitzenden Kind vor, und das Kind bat seine Mutter, Tanja mit nach Hause nehmen zu dürfen, es bettelte geradezu mit seinen großen, grünen Kinderaugen darum. Die Erkenntnis ließ Karla stocken wie Kälte flüssige Kuvertüre – diese Frau würdigte sie keines Blickes, denn…   

… Karla war ein Marmorkuchen. Sie erinnerte an vergangene Kindergeburtstage, konnte keinen Geschmack verfehlen, vermittelte durch ihr gespaltenes Inneres zugleich Eleganz und Ambivalenz. Karla war ein Versprechen.  

Tanja dagegen war eine Linzer Torte, eine bei 180 Grad gebackene Köstlichkeit. Sie sah aus wie ein Kuchen, ein mit Johannisbeermarmelade bestrichener Mürbeteig mit Teiggittern, doch sie war eine Torte. Torten verdrängen Kuchen.  

Und Karla fühlte sich von ihr verdrängt.  

 

„Tanja?“, fragte Karla zur Mittagsstunde.    

Der penetrante Geruch der Fleisch- und Käsetheke hing über ihnen – Fleischbällchen, würziger Schafskäse – und Karla konnte von Weitem den Emmentaler mit dem Gouda diskutieren hören.  

Tanja blieb stumm. Vielleicht schmollte sie, weil der runzlige Mann von vorhin sie doch nicht gekauft hatte. Vielleicht ignorierte Tanja Kuchen auch aus Prinzip.   

„Tanja? Warum kaufen sie dich nicht?“, fragte Karla.  

Sie wollte scharf klingen, so scharf wie weiße Mandelsplitter, aber es gelang ihr nicht. Sie war schlussendlich ein manierlicher Marmorkuchen, kein zickiger Zitronenkuchen, kein aufmüpfiger Apfelkuchen – keine der philosophierenden Puddingschnecken, die Gott zu erklären glaubten, wenn der Tag länger und die Käse lauter wurden. Gestern hatte eine Puddingschnecke Karla erklären wollen, was eine postulierte Prämisse wäre.  

„Tanja?“, fragte Karla, „was ist eine postulierte Prämisse?“   

Tanja vermied jede Regung, jedes Puderzuckerkörnchen blieb an Ort und Stelle, ihre Teiggitterstäbe peinlich symmetrisch.  

„Ich kann jetzt nicht sprechen, Karla“, sagte Tanja endlich. 

Tanjas Stimme klang sanft und klar wie Milch, bevor sie im Topf erhitzt wird, dachte Karla, doch sie hörte die körperliche Anspannung, die mitschwang. Tanja wirkte so, als würde sie ihren Bauch einziehen, fand Karla, bemüht und gestresst.     

„Geht es dir gut, Tanja?“, fragte Karla und zupfte ihren schwarzen Strudel zurecht.  

„… Jetzt nicht, Karla.“  

„Du kennst meinen Namen, Tanja?“   

„… Ist den Umständen geschuldet, Karla“, sagte Tanja leise, sie atmete in flachen Zügen.  

Es muss anstrengend sein, eine Linzer Torte zu sein, dachte Karla, sie seufzte und gab ihrem weißen Strudel durch den Luftstrom neuen Schwung. „Bist du gerade sehr konzentriert, Tanja, sehr beschäftigt, störe ich dich beim Arbeiten?“     

Tanja schwieg. Angestellte kamen und gingen, Karla lauschte dem Knacken der Papierkartons, aus denen Tetra Paks entladen wurden, nach, vernahm das Rascheln der Plastik, in das die Eisbergsalatköpfe eingehüllt waren. Die Köpfe schliefen zu einem einzigen großen Eisberg aufgetürmt im Massenbett aufeinander, überlegte Karla und fand ihren eigenen Gedanken makaber.  

 

Dann blitzte eine Schuhspitze hinter dem Regal mit Mehl hervor. Karla stutzte: Ein Käufer, ihr Käufer! Die Schuhsohlen quietschten auf dem glatten Boden und beim Auftreten der Ferse zischte ein besonders unangenehmer Ton durch die Gänge.  

„Ausgeprägter Fersenschritt“, kommentierte Karla.  

Karla musste sich zusammennehmen, Kontenance wahren, ihren inneren Strudel besänftigen. Tanja atmete nicht mehr.  

„Verkürzter Hals… krummer Nacken…“, keuchte Tanja von ihrem Platz schräg über Karla, von dem aus sie den Herankommenden besser sehen konnte, „… gehört dir.“  

Karla schnaubte.    

Ein Angestellter in roter Veste schritt an beiden vorüber und kehrte ihnen beim Einräumen der Tiefkühltruhe den Rücken zu. Von oben spürte Karla Tanjas entspannten Atemstoß, der auf ihre Schokoladenglasur traf. Sie macht mir die Frisur kaputt, dachte Karla, sie will Krieg!   

„Du bist keine Torte, Tanja“, sagte sie entschlossen, „du bist ein mit Marmelade beschmierter Keks.“  

„Und du das Produkt einer Resteverwertung, Karla.“  

„Du biederst dich an!“   

„Sei still, alle wissen, du bist nur neidisch. Dir fehlt meine Klasse, meine Selbstverständlichkeit –“ 

„Was macht dich denn zur Torte, Tanja? Ist es deine runde Form? Auch ich kann in runder Form gebacken werden!“   

Tanja seufzte und das Geräusch erinnerte Karla an das Ausdrücken von Spritzbeuteln, wenn sich in ihnen bloß aufgestaute Luft befindet: platt und müde. 

„Du bist ein Kuchen“, sagte Tanja, „du kannst in Tortenform gebacken werden, doch du bleibst ein Kuchen.“  

„Und du bleibst einschichtig, Tanja, durchschaubar und simpel, und du kannst es nicht mal verstecken“, sagte Karla, den mutigen Mandelkuchen imitierend, „deswegen stehst du nicht in der Konditorei neben den Sahnetorten, sondern bei den Puddingschnecken im Supermarkt.“     

Tanja schwieg. Dann antwortete sie: „Ich stehe bei dir, Teuerste.“  

 

Susanne wurde um ein Uhr mittags geliefert und ihr gefiel das nicht.   

In ihrem Karton war es dunkel und kalt; die Pappe, die sie wie der Teig einer Tarte umgab, dämpfte die Außenwelt fast vollständig ab. Sie wollte ausbrechen, hatte Wehmut nach der stickigen Luft in den Gängen, nach dem Piepen der Kasse, dem Geräusch klimpernder, metallischer Münzen, die die Menschen zählten, um abzuwägen, ob sie sich Susanne werden leisten können, denn… 

… Susanne war eine Schwarzwälder Kirschtorte, die gefroren in die Tiefkühltruhe eines Supermarkts gelegt worden war. Ein nach Schweiß riechender Mann in roter Veste hatte sie in ihr frostiges Gefängnis gesperrt.  

Susanne sehnte sich danach, neben Karla, dem lispelnden Kuchen, und Tanja, der selbstherrlichen Torte, zu stehen – draußen, auf einem Regal – und sich mit ihnen zu streiten. Sie misste das Gerede der Puddingschnecken, das sie nie gehört und den Gestank des Emmentalers, den sie nie gerochen hatte. Susanne war eine Torte erster Klasse, eine Schwarzwälder-Kirsch, mehrschichtig, rund und kostbar.     

Und sie war einsam.

 

Ludwigshafen, Oktober 2022

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